Von realer Präsenz

„Von realer Gegenwart“ erschien im Jahr 1990. Dieses Buch hat mich stark beeindruckt. Zum Jahreswechsel hatte ich das Bedürfnis, nochmals einige Passagen zu lesen. Am 3. Februar verstarb der Literaturwissenschaftler, Essayist und Denker George Steiner.

Ulrich Greiner geht in seinem Nachruf in der ZEIT ausführlich auf dieses zentrale Werk ein, scheut sich auch nicht, die Provokation in Steiner Urteil über die Schwemme des Sekundären ausführlich zu erläutern.

„Die These lautet, daß jede logisch stimmige Erklärung des Vermögens der menschlichen Sprache, Sinn und Gefühl zu vermitteln, letztlich auf der Annahme einer Gegenwart Gottes beruhen muß.“

Steiner eröffnet sein Buch mit einem Verweis auf eine Gottesgegenwart, die er im orginären Kunstwerk erkennt, und stellt dem gegenüber:

„Der Geist unseres Zeitalters ist der des Journalismus. Eine tonangebende Tollheit von sekundärem Diskurs infiziert Denken und Sensibilität.“

Greiner entwickelt sein Porträt vom Werk her und kommt dann zum Leben und zur Familie; er leitet das Denken Steiners damit nicht aus seiner jüdischen Herkunft und dem Überleben der Nazizeit ab. Die Biographie tritt hinter den Gedanken zurück; das hätte Steiner vermutlich gefallen.

Mara Delius geht in der WELT ganz anders vor. Sie beginnt mit einer Anekdote und glaubt, mit der Überleitung vom Schachspiel zu Steiners kolportierten Suche nach „absoluter Meisterschaft“ in der Sprache einen Einstieg in sein Denken gefunden zu haben.

Dem biographischen Teil widmet sie dann viel Raum, mutmaßt über seine Motivation, verliert sich wieder in Anekdoten, kommt dann endlich auf „After Babel“ von 1975 zu sprechen, um hier zum einzigen Mal in ihrem Nachruf so etwas wie eine inhaltliche Annäherung zu wagen. Steiner entwickelt hier seinen später in „Realer Gegenwart“ ausgeführten Gedanken von Sprache als Ort metaphysischer Präsenz.

Im Vergleich zu Greiner bleibt Delius die Steinersche Gedankenwelt fremd. Erstaunlicherweise geht es Willi Winkler in der Süddeutschen ähnlich.

Auch er leitet mit einer Anekdote ein; sein biographischer Abriss umfasst keine inhaltliche Auseinandersetzung und gipfelt in der Aussage:

„Als Kulturkritiker, immer noch im Heidegger’schen Geiste und völlig unbeeindruckt von feministischer Kritik, feierte er den Kanon der klassischen Literatur, in den er sich allenfalls von Nietzsche hineinreden ließ.“

Die eigentlich als Liebeserklärung an die Literatur und Kunst zu lesende „Reale Gegenwart“ wird bei Winkler zur „Kampfschrift“:

1989 veröffentlichte er die Kampfschrift „Von realer Gegenwart“, in der er sich mit gewohnter Verve gegen sein eigenes Fach, die Literaturwissenschaft, wandte. Nichts sollte mehr gelten außer den Texten selber, was er mit der seltsam zirkulären These einleitete: „Die Annahme lautet, dass ‚Gott‘ ist, nicht weil unsere Grammatik sich überlebt hat; sondern dass die Grammatik lebt und Welten erzeugt, weil es dieses Setzen auf Gott gibt.“ Ein Nachwort von Botho Strauß in der deutschen Ausgabe (angeblich wusste Steiner nichts von diesem Nachwort) machte daraus einen „Aufstand gegen die sekundäre Welt“, was von der masochistisch erschütterten Nach-Wende—Intelligenz gern genommen wurde.

Der Grund für Winklers spürbaren Widerwillen mag dann auch in der zeitlichen Nähe zu Botho Strauss‘ „Anschwellendem Bocksgesang“ liegen, auf den der Begriff „Kampfschrift“ viel eher zutrifft.


Mit George Steiner haben wir einen großen humanistischen Denker verloren: Sein unbedingtes Eintreten für die Kunst und die Verteidigung des Kunstwerks vor den Sekundär-Kritikern bleibt aktuell. Angesichts zeitgeistiger Debatten, in denen Literatur nur noch als analytische Ergänzung zur Autorenbiographie erscheint, die es aus heutiger Perspektive zu sezieren gilt, wird die Lektüre George Steiners geradezu zwingend, um eine intellektuelle Gegenposition zu begründen.

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